In Zeiten von Altersdiskriminierung und übertriebenem Jugendwahn, von Golden- Shopper und Anti-Aging, von Master- Consumer und Demenz entwickelt sich unsere Gesellschaft zunehmend geschmacklos, voller Angst, vor allem aber würdelos, dem Thema Alter und Altern gegenüber.
So wird Alter gleich mit schwach, krank, unattraktiv, lustlos, vor allem aber mit nutzlos und überflüssig verbunden. Eine Haltung, die das älter werden als Manko, also als Fehlbetrag in der Kasse des Lebens bezeichnet. Das sich Mensch damit wohl wissend nicht identifizieren möchte ist durchaus verständlich und nachvollziehbar, obgleich beim Einsatz der letzten grauen Gehirnzellen doch fest zu stellen sein muss, dass eine oberflächliche Medienhysterie zu genanntem Thema, einen durchschnittlich intelligent veranlagten Menschen zu einer gewissen Kritikfähigkeit veranlassen sollte, könnte oder gar müsste.
Was als junger Mensch als große Herausforderung gilt, endlich älter, reifer, interessanter, klüger, bewusster, charismatischer zu werden, scheint sich ab einem geschätzten Alter von plus/minus 60 (oder noch jünger?) um 100 Grad zu wandeln, ja sogar völlig bedeutungslos zu werden. Dagegen stehen prominente Beispiele und Idole, die Mutmachen und Alter nicht gleich mit nutzlos setzen: Charlie Chaplin, der mit 77 seinen ersten Farbfilm dreht, Michelangelo, der mit 86 das Holzmodell der Petersdom- Kuppel fertig stellt, Coco Chanel, die mit 71 revolutionäre Mode-Kollektionen über den Laufsteg schickt, Picasso, der 85-jährig neue Bilder für eine Retrospektive entwirft und viele mehr…
Der Künstler Ruben R. Baumgartner stellt in seinem jüngsten Projekt 10 + 1 aus dem Zyklus Wikipedia 1.0, wie schon von vorherigen Serien bekannt, diese gesellschaftliche Entwicklung in Frage und nicht nur das, er bekennt, offenbart und greift an: „die googelnde world-wide-web Gesellschaft“, multikulturell, innovativ, voller Perfektionismus, durchgestylt, dem globalen Wahnsinn verfallen, konservativ, wenig kreativ, vor allem aber gefühllos, nicht gewachsen und ergreifend leer. All diesen Bewegungen setzt er den Mensch entgegen. Je älter, desto unverwechselbarer, den alten Mensch also, mit all seinen Fähigkeiten, seiner Verletzlichkeit und Vergänglichkeit, aber auch seiner Möglichkeiten und seinem Potential. Spürt hier das letzte Tabu auf, um es in seinem künstlerischen Prozess zurück zu führen zu den Wurzeln – dem Ursprung allen Lebens, dem Anfang und Ende, zu enttabuisieren oder gar zu retten…
Mit seiner eigen entwickelten Technik ArtpleX – dem vielfachen Malen mit Acrylfarben auf Acrylglas – arbeitet der Künstler in mehreren Ebenen – reliefartig – sowohl plastisch als auch durchsichtig – opak und transparent. Im aufwendigen Prozedere malt, formt, schraubt und schichtet er. Neuerdings überzieht er das Werk mit einer Polyester Gießharz – Mischung um es zu konservieren – es haltbar zu machen für die Nachwelt.
In 10 + 1 setzt sich der Künstler direkt und bewusst mit Mensch und Alter auseinander – befragt, hinterfragt, diskutiert und baut Nähe auf, fühlt und stimmt sich ein mit seinen Modellen und Protagonisten um zu erkennen, zu verstehen, jene Werte und Tugenden, jene Weisheit und Erfahrungen, die doch ein Leben brauchen, um zu wachsen und zu reifen. Alt sein bekommt hier seine ureigene Qualität zurück. Langsamkeit, Ruhe und Kraft erheben sich zum Göttlichen und gehen mit Groteske, Humor, Schwermut, Demut und sogar Leiden wie selbstverständlich eine Beziehung ein, ohne wenn und aber, konsequent und voller Hoffnung, köstlich frech und alles andere als langweilig.
Ruben R. Baumgartners 10 + 1 Projekt stellt klar; die Lebensnotwendigkeit, das unverzichtbare Wissen und die Lebenserfahrung des alten Menschen im direkten Austausch und Kontakt, unabdingbar und von höchster Priorität für die Vielfalt und den Fortbestand einer Kultur. So weckt er weder irreführende Träume von ewiger Jugend noch beschönigt er das Alter, sondern lässt es einfach sein, gewähren und uns daran teilhaben und macht neugierig, vielleicht auf den eigenen Lebensabend.
Das Aufeinanderprallen von Kunst und Alter, von Baumgartners Kunst und seinen zufällig ausgewählten und sich bereit erklärten Senioren, setzt hier neue Sichtweisen frei, öffnet das Miteinander schon im Entstehungsprozess und lässt schwärmen und gleichzeitig Gänsehaut entstehen, extrem, im höchsten Maße, einfach und ehrlich, schön und schaurig zugleich. Dass sich der Künstler seit vielen Jahren in mehreren Serien immer wieder aufs Neue mit Ausdruck und Persönlichkeit von Mensch und Gesichter aus einander setzt, zeigt seine ernsthafte, tiefgründige und fast analytische Herangehensweise ans Thema. So werden unter dem Zyklus “Wikipedia 1.0“ weitere Projekte folgen; sei es das Aufspüren der alten Olivenbäume von Apulien oder die Transformation von alten Bergwerk-Bildern in genannten Zyklus, allesamt sich beziehend auf das Alter, das Leben und die Erde, die rudimentäre – untrennbare Gemeinsamkeit.
In 10 + 1 stellt sich der Künstler und Ökologe Ruben R. Baumgartner erneut den Polaritäten: wittert und spürt auf, instinktiv und extrem konsequent und verfolgt das Tabu des Alterns, unerbittlich – nackt und ohne Gnade – in seiner originären Natürlichkeit.
von Regine Autenrieth